Montag, 31. August 2009

Was hat der schöne Silvio mit dem toten George zu tun?

Wenn Sie beim Durchblättern ihrer Morgenzeitung eine neue Schlagzeile lesen über Silvio Berlusconi, dann geht es Ihnen wahrscheinlich ähnlich wie mir: Wenn ich gut drauf bin, lese ich schnell mal drüber, um zu erfahren, was er sich denn nun schon wieder geleistet hat, der Schwerenöter. Ansonsten blättere ich einfach weiter und verschwende keinen Gedanken mehr an den anstrengenden, italienischen Macho.
Ganz falsch, habe ich feststellen müssen. Weil sich nämlich hinter so mancher offensichtlich nur unterhaltsam gemeinten Meldung etwas verbirgt, das man unbedingt wissen sollte. Ein Beispiel?! Bitte schön, hier ein Blick auf die Schlagzeilen der letzten Woche:


Schadensersatzforderung: Berlusconi außer Kontrolle | Frankfurter Rundschau - Politik
Krise zwischen Heiligem Stuhl und Berlusconi - heute.de Nachrichten
NETZEITUNG POLITIK AUSLAND NACHRICHTEN: Vatikan empört sich über Berlusconi
Rosenkrieg in Italien - Ist Silvio Berlusconi reif für die Sex-Klinik? - Leben & Stil - sueddeutsche.de
"Berlusconi müsse sich vor dem Parlament zu den Anschuldigungen äußern, fordert etwa der katholische Bischof Domenico Mogavero, Präsident der italienischen Bischofskommission für Rechtsfragen, in der Zeitung Repubblica."
- schreibt hier "sueddeutsche. de", und natürlich wird jeder glauben, hier handele es sich ganz klar um eine Anprangerung der moralischen Verfehlungen des Herrn Berlusconi von Seiten der Kirche. Sicher, das mag schon sein. Aber das Ganze bekommt eine ganz andere Tonlage, wenn man dann in der "Tagesschau" hört oder liest ("Tagesschau.de"):
Italien: Neue Eiszeit zwischen Regierung und Vatikan | tagesschau.de
" "Avvenire" ist die Zeitung der italienischen Bischofskonferenz, sie veröffentlicht seit Wochen kritische Artikel über die sexuellen Ausschweifungen Berlusconis. Vor allem aber kritisiert sie den Umgang Italiens mit Bootsflüchtlingen im Mittelmeer. Nachdem vor rund einer Woche etwa 70 Menschen die Überfahrt nicht überlebt hatten, hieß es dort, der Westen schaue genau so weg wie während des Holocaust. Im katholischen Italien haben solche Äußerungen viel Bedeutung."
Da sind wir plötzlich - ganz ohne "Vorwarnung" - bei einem weit weniger amüsanten Thema, einem, dem wir sonst möglichst gar keine oder nur am Rande Beachtung schenken. Flüchtlinge aus Afrika, auf der Suche nach einem besseren Leben. Dass dieser Themenkreis höchst problematisch ist - ganz gleich von welcher Warte aus man ihn betrachtet - das weiß sogar unser vielbeschäftigter Freund Berlusconi, und deshalb hat er sich kürzlich auch was einfallen lassen:
Illegale Einwanderung in Italien ein Verbrechen - Politik - Aktuelle Nachrichten - Vorarlberg Online
Ab sofort geht es also statt ins "Auffanglager" ab in den Knast - und das nicht nur als Flüchtling, sondern auch als humanitär handelnder Einheimischer.
 "Wer illegal eingewanderten Personen eine Wohnung vermietet, muss mit einer Strafe von bis zu drei Jahren Haft rechnen.(...)
Um Scheinehen zwischen Italienern und Migranten zu bekämpfen, muss der ausländische Ehepartner eines italienischen Bürgers mindestens zwei Jahre lang in Italien gelebt haben, um die Staatsbürgerschaft zu erhalten."
Und damit das ganze auch richtig funktioniert und niemand  übersehen wird, gibt es jetzt auch ganz legal Bürgerwehren, die sich schon um alles kümmern werden in Italien:
NETZEITUNG POLITIK AUSLAND NACHRICHTEN: Bürgerwehr in Italien legalisiert
Und Dirk Schümer schreibt dazu in "FAZnet":
"Italien ist nun der erste europäische Staat, in dem nicht nur die illegale Einwanderung, sondern auch der illegale Aufenthalt als Straftatbestand fixiert ist. Wer im Land ohne gültige Papiere angetroffen wird, kann abgeurteilt oder sofort ausgewiesen werden. Innenminister Maroni von der Lega Nord feiert sein neues Law-and-Order-Paket als Triumph über jahrelanges Laissez-faire. Wie viele Menschen aus allen Erdteilen nun von heimlichen („clandestini“) zu illegalen Bewohnern Italiens gemacht wurden, ist offen."
Schümer beschreibt auch sehr treffend, wie sich die Stimmung im Land in den letzten Monaten aufgeheizt hat und dass sich viele Italiener gegen weitere unkontrollierte Zuwanderung wehren.
Vorausgegangen waren in den letzten Monaten nicht nur die lautstarken Proteste der Bewohner der kleinen sizilianischen Insel Lampedusa und ihrer unfreiwilligen "Gäste", die sich gemeinsam u.a. gegen die völlig chaotischen und menschenunwürdigen Zustände in dem dortigen Flüchtlings-Auffanglager  beschwerten. Die letzten Meldungen von Italiens schönen Mittelmeerstränden waren noch weitaus katastrophaler, wie auch "Spiegel online" berichtete:
Flüchtlingsdrama: Mehrere Kapitäne ignorierten Schiffbrüchige - SPIEGEL ONLINE - Nachrichten - Politik
 "Im Mittelmeer spielen sich immer wieder Flüchtlingsdramen ab. Migranten machen sich mit seeuntauglichen Booten auf den Weg, oft kommen sie völlig entkräftet an Land, immer wieder gibt es viele Tote. Aus Libyen erreichen kaum noch Boote Lampedusa, weil Tripolis und Rom sie seit einigen Monaten in einer gemeinsamen und höchst umstrittenen Aktion in internationalem Gewässer abfangen und nach Libyen zurückbringen. In der Vereinbarung hat sich Libyen auch verpflichtet, die Kontrollen an den Küsten des Landes zu verstärken."

Flüchtlinge im Mittelmeer verdurstet: Eine wochenlanger Odyssee - taz.de
"Am schlimmsten: Niemand half den Flüchtlingen. Nur einmal habe ein Fischkutter Brot und Wasser hinterlassen. Das sei beispiellos: "Es ist alarmierend, dass diese Menschen 20 Tage lang im Mittelmeer drifteten, ohne dass ein anderes Boot anhielt und ihnen half. Das ist ein wirklich niederschmetterndes erstes Mal", so Boldrini.
Christopher Hein vom Italienischen Flüchtlingsrat ging weiter: "Da das Meer zwischen Lampedusa und Libyen Tag und Nacht überwacht wird, kann es einfach nicht sein, dass ein 12 Meter langes Boot so lange herumdriftet und niemand das merkt", sagte er. "Das bedeutet, dass man diese Menschen bewusst ihrem Schicksal überlassen hat."
- schreibt Dominic Johnson in der "taz".
Das erschreckt mich daran am allermeisten: Da entsteht - völlig unbeachtet von den Bürgern Europas - eine lautlose und offensichtlich sehr effiziente Maschinerie, die die "Eindringlinge" wirkungsvoll und völlig emotionslos abwehrt, damit erst gar nicht solch unschöne Flüchtlingsdramen in den Meldungen erscheinen müssen. Hab' ich nicht immer gedacht, die industriemäßige Entsorgung von "Untermenschen" wäre heutzutage gar nicht mehr möglich?! Ich habe dabei wohl vergessen, dass es ja auch um sehr viel Geld geht. Damit meine ich nicht mal das Geld, das die Flüchtlinge uns hier kosten würden, ich denke da eher an die Milliarden, die die Tourismusindustrie den Mittelmeerliebhabern Jahr für Jahr aus den Strand-Taschen zieht. Da ist es wohl auch kein Wunder, dass sich das "Problem" seit kurzem auch auf Griechenlands beliebten Ferien-Inseln bemerkbar macht:
Jugendliche Migranten auf Lesbos im Hungerstreik - Politik - Aktuelle Nachrichten - Vorarlberg Online

"Im Schutz der Dunkelheit kommen sie manchmal zu Hunderten. Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Äthiopien, Afghanistan, Iran und Irak. Jede Nacht landen sie in vollbesetzten kleinen Boote an der Ostküste der griechischen Insel Lesbos. Am 1. August war der 16-jährige Ahmad dabei. Vor vier Monaten verließ er Afghanistan. Mit 50 anderen Papierlosen setzte der 16-jährige Paschtune aus der nur zehn Kilometer entfernten Türkei nach Lesbos über. 500 Euro musste jeder für die Passage bezahlen. Doch sie endete vorerst im sogenannten Welcome Center von Pagani, einem der völlig überbelegten Lager, in die der griechische Staat alle Papierlosen zur Registrierung in sogenannte Administrativhaft sperrt."
 - beschreibt Christian Jakob von der "taz" die Situation vor Ort.
Flucht nach Europa: Administrativhaft im "Welcome Center" - taz.de
Die griechische Überfahrt

Ja, ich weiß. Es wird zuviel! Zuviel an Meldungen, zuviel an Flüchtlingen, zuviel an emotionaler Anstrengung beim Lesen. Es depremiert. Schließlich kann man ja ohnehin nichts dagegen tun. Man kann ja nicht helfen, und es sind ja so viele und sie werden immer mehr...Aber wo genau soll man aufhören, ab wo nicht mehr hinschauen? Ab wo gezielt weghören, wenn das Thema zur Sprache kommt?! Noch vor Georges, einem gebildeten jungen Mann mit besten Absichten, der sein Streben nach Glück auf so hässliche Weise mit dem Leben bezahlen musste? Entscheiden Sie selbst!
Erschütternder Bericht eines Flüchtlings: Anrennen gegen die Festung Europa
Gescheitert an der Festung Europa: Georges' Odyssee durch Afrika
Wie Europa sich abschottet: Die tödliche Flucht aus Afrika

Schon aufgegeben? Oder sollen wir uns erst abwenden an der Stelle, wo es zu politischen Willensbekundungen und europaweit gültigen Entscheidungen kommt?! Dort, wo wir ja vielleicht doch mitreden und mitentscheiden können...und müssten:
Flüchtlinge: EU will neue Zuwanderungsregeln | Frankfurter Rundschau - Politik
EU streitet erneut über Regeln für Flüchtlinge | Europa | Deutsche Welle | 25.08.2009
Last auf alle EU-Staaten verteilen - Neue Zuwanderungsregeln - n-tv.de
"Wir brauchen mehr Solidarität unter den EU-Ländern in Flüchtlingsfragen" | Europa | Deutsche Welle | 26.08.2009

Toll, dass Sie bis hierhin mitgekommen sind. Denn hier schließt sich auch wieder der Kreis: Was so frivol mit Silvio begonnen hat, endet mit einer Forderung des Vatikans, die wohl jeder unterschreiben kann:
 "Es sei eine Sache der Menschlichkeit, das Problem der Migranten nicht nur unter Ordnungs- und Sicherheitsaspekten zu behandeln, sagte der Präsident des Päpstlichen Rates für die Migrantenseelsorge, Erzbischof Antonio Maria Veglio, in einem Interview mit der Tageszeitung "La Stampa"."

Vatikan fordert internationales Schutzabkommen für Migranten - Politik - Aktuelle Nachrichten - Vorarlberg Online
Und sollten Sie bei Gelegenheit mehr erfahren wollen über die Zustände am Mittelmeer, die ja eigentlich auch unsere (EU-)Zustände sind, dann empfehle ich folgendes Dossier:
Armutsflüchtlinge aus Afrika - sueddeutsche.de

Über die Menschen, die sich da unter Lebensgefahr aufgemacht haben in unsere Welt, können Sie mehr erfahren, wenn Sie nicht weghören oder wegschauen beim nächsten Mal, wenn von ertrunkenen Flüchtlingen oder unmenschlichen Zuständen in den Lagern die Rede ist. Das ist schon eine ganze Menge, auf jeden Fall viel mehr, als die meisten tun!
Einen sehenswerten Spielfilm zum Thema gilt es auch noch zu empfehlen:

Der Film "Hotel Sahara" zeigt Flüchtlingsdramen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Voodoo-Altar in Benin

Voodoo-Altar in Benin
Foto: Voodoo-Altar 08/D. Schwarz/Creat. Comm. Lic. 3.0/Wikimedia C.

Nubische Pharaonen

Nubische Pharaonen
Foto: Wufei 07/Public Domain/Wikimedia Commons

Gegenwartskunst aus Afrika

Gegenwartskunst aus Afrika
Nostra Immagine / Twice 25 & Rinina 25 / GNU-Fr. Doc. Lic.1.2 / Wiki. Com.

Ein kleines Souvenir vielleicht?!

Afrikas Musik